Leseprobe

Es beginnt im Jahre 1963

1.

„Eines Tages holen wir uns das wieder!“

Als der unscheinbar graue Brief mit der alles und endgültig entscheidenden Antwort – hopp oder top, nur zwei Möglichkeiten gab es – als der Brief vom Gericht auf dem Tisch lag, erinnerte ich mich. Auftauchten Bilder hell aus dem dunklen Vergangenen, die noch längst nicht verronnen die Nacht:

Es war vor langer Zeit – allerdings auch nicht zu lange her –, daß ein Mann am offenen Fenster stand und die Gardine beiseite geschoben hatte. Er ließ seinen Blick grimmig über die Bach, die vor dem Haus über Kiesel hüpfte, an den Häusern vorbei, die eng geschachtelt am Hang standen, den Berg hinauf zum Schloß schweifen. In der rechten Hand hielt er eine Zigarette, deren Asche sich bedrohlich neigte. In einem Wettkampf mit sich selbst, um zu beweisen, wie gut noch seine Nerven und wie ruhig er die Hände halten könne, suchte er die Zigarette bis zum Ende zu rauchen ohne die Asche abzuklopfen. Gelang ihm das Kunststück, schmunzelte er sich zu – es gelang ihm jedesmal, trotz des krümeligen Tabaks. Im letzten Augenblick bewegte sich seine Hand präzise wie der Ausleger eines Kranes über den Aschenbecher.

Der alte Knabe hatte lange nicht an der Zigarette gezogen. Er rauchte selten, nur wenn etwas Wichtiges zu bedenken war; ein Ritual wie die Pfeife bei der Versammlung der Häuptlinge. Es war ihm nicht am Geschmack des Tabaks gelegen, auch nicht an der Wirkung – er brauchte den Rauch, um darauf seine Gedanken zum nah und doch so fernen Traumgehäuse schweben zu lassen.

Die Stirn hatte er in Falten gelegt, die Augen sehnsuchtsvoll auf diesen einen Punkt dort oben gerichtet. Es war kurz nach fünf und bereits dunkel. Es schneite. Durch das Treiben der Flocken funkelten die Lichter des Schlosses, welches im Ort nur das Anwesen genannt wurde. Der Bursche erahnte die Umrisse der dicht gedrängt stehenden Häuser, die eine hohe Mauer umschloß. Das Anwesen war gut beleuchtet. Ungemütlich, grell.

Das Zimmer, in dem der Grauhaarige, war gut geheizt. Man wußte hierorts mit dem Winter umzugehen. Das Radio spielte leise Schlager. Den vom Alten Hut von Jerry Flynn und den vom Schwarzen Kater Stanislaus. Auf dem Tisch flackerten vier Kerzen in einem Kranz aus Tannenzweigen; auf dem wuchtigen Wohnzimmerschrank, darinnen Bücher, Briefe und die guten Gläser untergebracht, gluckste es in regelmäßigen Abständen aus zwei Weinballons. Die Möbel im Zimmer, mattglänzend und dunkel. Nahe dem Ofen standen Sofa, Tisch und Stühle. Neben dem Fenster mit der verheißungsvollen Aussicht, führte eine Tapetentür in eine Kammer. Das Zimmer hatte schräge Wände, Dachgeschoßwohnung. Der kleine Drahtige rührte sich lange nicht von der Stelle. Er zündete sich eine neue Zigarette an, was anzeigte, daß sehr wichtig, was er zu bedenken hatte.

Ließ das Schneetreiben nach, konnte er auf der Mauer des Anwesens Stacheldraht erkennen. Geschlossene Anstalt. Der rauchend am Fenster stand, zischelte drohend vor sich hin: „Eines Tages holen wir uns das wieder!“ Der Mann? Mein Großvater Güstav, ein fichelantes Kerlchen.

„Eines Tages!“

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